Der Bildwinkel der Objektive
Bestimmung des Bildwinkels in der Fotopraxis.
Seine Objektive kennen (lernen)
Dieser Artikel über Objektive in der praktischen Anwendung wendet sich an alle Fotografen/innen: privat und kommerziell aller Altersgruppen und aller Kenntnisstufen.
Sie lernen hier wichtige Dinge rund um Ihre Objektlive, welche Ihnen sofort zu besseren Fotos verhelfen.
Dieser Artikel über Objektive befasst sich vor allem mit dem Bildwinkel, auch Blickwinkel genannt - Angle of View (AoV), Field of View (FoV) und seiner Bestimmung in der Fotopraxis.
These: Die meisten Menschen kennen ihre Objektive nicht wirklich
- Bevor Sie nun Ihre Backen aufblasen, warten Sie ab, was ich genau damit meine.
- Es geht hier überhaupt nicht um die in allen Marketing-Informationen genannten Details wie Preis, Gewicht, Maße, Linsenanzahl, Offenblende, Anzahl der Blendenlamellen etc.
- Zeigen Sie mir bitte z.B. bei Ihrem Normal-Zoom - das ist das Standardmodell, das jeder Fotograf (zumindest als Kit-Zoom) mit der Kamera erhielt, und das so ca. 24-70 mm Brennweite abdeckt - die Grenzen der beiden maximalen Bildwinkel - und zwar mit Ihren Fingern, Händen und Armen, so dass Sie selbst und jeder andere sofort erkennt, was Sie damit aufnehmen können.
- Falls Sie als fortgeschrittener Amateur oder als Berufsfotograf nur mit Festbrennweiten arbeiten, dann zeigen Sie mir bitte die beiden Bildwinkel bei 24 und bei 70 mm (oder 35 mm und 80 mm oder jede andere ähnliche Brennweite in diesem Bereich, die Sie besitzen / verwenden) - und zwar mit Ihren Fingern, Händen und Armen, so dass Sie selbst und jeder andere sofort erkennt, was Sie damit aufnehmen können.
- Und plötzlich lassen über 3/4 der Fotografen die Luft wieder aus ihren Backen entweichen.
Der Bildwinkel / Blickwinkel - Angle of View (AoV) / Field of View (FoV)
Wozu ist der Bildwinkel wichtig?
- Ganz einfach erklärt, legt er zuerst einmal die Größe des abgebildeten Objektes fest.
- Daraus folgt, dass Sie sich zuerst entscheiden müssen, was Sie eigentlich aufnehmen wollen.
- Ist dieses Motiv größer als der Bildwinkel Ihres Objektives, dann wird das Motiv nicht in den Sucher und auf das Bild passen. Das Motiv wird beschnitten.
- Ein Ausschnitt - also die Beschränkung auf einen wichtigen Teil (z.B. Kopf der Person) kann in manchen Fällen sogar sinnvoll sein. Aber manchmal will man alles aufnehmen.
- Dann kann man den eigenen Standpunkt ändern und weiter nach hinten gehen.
- Aber leider gibt es da oft Hindernisse, wie eine Wand im engen Zimmer, oder eine Hauswand in einer engen Gasse etc.
- Auf der anderen Seite kann es sein, dass ein Motiv klein oder weit weg ist, und selbst beim Anschlag des Zooms ziemlich klein abgebildet wird.
- Selbstredend kann man dann bei Kameras mit Sensoren von bis zu 150 Mega-Pixel den Ausschnitt nachträglich am PC beschneiden. Aber eigentlich ist das nur in engen Grenzen zielführend, das sich die Auflösung und damit die Bildqualität schnell reduziert.
- Letztendlich verbirgt sich hinter meinem Ansinnen die alltägliche fotografische Frage: Sie haben ein Motiv gesehen und die absolut perfekte Perspektive bereits gefunden. Nun müssen Sie bestimmen, mit welcher Brennweite = mit welchem Objektiv Sie diese Perspektive optimal festhalten und in ein beeindruckendes Foto umsetzen.
- Selbstverständlich können Sie alternativ alle Ihre Objektive aus dem Fotorucksack herausholen, an die Kamera montieren und jedes Objektiv ausprobieren. Aber das kostet Zeit und Nerven.
Die Brennweite und der Bildwinkel legen somit den möglichen Bildausschnitt fest.
Wer vorher weiß oder zumindest abschätzen kann, welche Brennweite welchen Bildwinkel erzeugt, spart Zeit und Nerven, weil er dann sofort das richtige Objektiv / die richtige Brennweite erhält. Ferner schont es die Objektive und die Kamera, da jedes An- und Abmontieren das Bajonett belastet.
Brennweite und Bildwinkel / Blickwinkel - focal length and angle of view (AoV) / field of view (F.o.V.)
Jeder kennt die Brennweite seiner Objektive. Aber welchen Bildwinkel besitzen sie / welchen Blickwinkel erzeugen sie?
Eine triviale Frage. Ein Weitwinkelobjektiv besitzt einen weiten Bildwinkel und ein Teleobjektiv einen schmalen. Aber wie entsprechen mm Brennweite den Gradzahlen der Bildwinkel genau?
- Ausgehend vom Vollformat (36*24 mm Sensor/Film-Fläche) einer Fotokamera liste ich hier einmal gängige Werte für den gerundeten horizontalen Bildwinkel auf, wenn man die Kamera im klassischen Landscape-Format hält.
- 12 mm Brennweite ergibt bei Vollformat ca. 113 Grad horizontalen Bildwinkel.
- 16 mm Brennweite ergibt bei Vollformat ca. 97 Grad horizontalen Bildwinkel.
- 20 mm Brennweite ergibt bei Vollformat ca. 84 Grad horizontalen Bildwinkel.
- 24 mm Brennweite ergibt bei Vollformat ca. 74 Grad horizontalen Bildwinkel.
- 28 mm Brennweite ergibt bei Vollformat ca. 65 Grad horizontalen Bildwinkel.
- 35 mm Brennweite ergibt bei Vollformat ca. 54 Grad horizontalen Bildwinkel.
- 50 mm Brennweite ergibt bei Vollformat ca. 40 Grad horizontalen Bildwinkel.
- 70 mm Brennweite ergibt bei Vollformat ca. 29 Grad horizontalen Bildwinkel.
- 100 mm Brennweite ergibt bei Vollformat ca. 20 Grad horizontalen Bildwinkel.
- 200 mm Brennweite ergibt bei Vollformat ca. 10 Grad horizontalen Bildwinkel.
- 300 mm Brennweite ergibt bei Vollformat ca. 7 Grad horizontalen Bildwinkel.
- 400 mm Brennweite ergibt bei Vollformat ca. 5 Grad horizontalen Bildwinkel.
- 500 mm Brennweite ergibt bei Vollformat ca. 4 Grad horizontalen Bildwinkel.
- 600 mm Brennweite ergibt bei Vollformat ca. 3,4 Grad horizontalen Bildwinkel.
- 800 mm Brennweite ergibt bei Vollformat ca. 2,6 Grad horizontalen Bildwinkel.
- Der Vollmond erscheint uns übrigens unter einem Winkel von ca. 0,5 Grad am Himmel. Dafür würde man (vertikaler Winkel) für eine halbwegs bildfüllende Aufnahme des Vollmondes ca. 2.500 mm Brennweite am Vollformat benötigen.
Siehe auch die verschiedenen Online-Rechenwerkzeuge unten in der Linkliste.
Einschränkungen
Sensorgröße
- Diese oben angegebenen Werte - wie die aller Rechentools und aller sonstigen schriftlichen Quellen - hängen jedoch massiv von der Sensorgröße ab.
- Hier beziehen sie sich auf das echte Vollformat von 36 * 24 mm.
- Allerdings besitzen nur noch wenige Kameras heute genau diese Sensordaten. Auch bei Vollformat werden gerne ein paar Zehntel-Millimeter bis zu einem Millimeter in der Länge und / oder der Breite weggelassen - manchmal sogar bei den teuersten Kameras. Das mag nun zwar dem Einen oder Anderen pingelig erscheinen, aber derartige kleine Abweichungen beim Sensor werden durch den Motivabstand vor dem Objektiv drastisch multipliziert.
- Für Crop-Sensoren - z.B. die beiden APS-C-Formate von Canon und Nikon - ergeben sich drastisch kleinere Bildwinkel, die man über den Crop-Faktor berechnen kann.
- Ferner bezieht es sich auf das Seitenverhältnis 3:2. Sofern man in der Kamera (für eine Aufnahme) das Seitenverhältnis ändert - also quasi den eigenen Sensor künstlich beschneidet -, dann kommen andere (= engere) Winkel zustande.
- Ganz extrem fällt dies bei den Micro-Four-Thirds mit ihrem offiziellen Seitenverhältnis 4:3 ins Gewicht.
- Manche Autoren sprechen deshalb auch von (Sensor-) formatbezogenem Aufnahmewinkel.
Motivabstand - Focus (length) Breathing
- Offiziell sind Objektive nur auf die Entfernungseinstellung Unendlich (∞) genormt und berechnet.
- Bei jedem Objektiv verändert sich der Bildwinkel etwas, wenn man ein Motiv ganz nah oder ganz weit entfernt (auf der Einstellung unendlich) aufnimmt. Dies wird bereits durch das Verschieben der Fokussierlinse erzeugt. Ganz extrem können diese Effekte bei Makro-Objektiven auftreten. Bei Makro-Objektiven ist der Bildwinkel im Nahbereich oft signifikant enger.
- Früher war es bei älteren Objektiven meist so, dass die Brennweite in mm scheinbar zunahm (der Blickwinkel also abnahm = enger wurde), wenn man sich dem Fotomotiv näherte.
- Neuere Objektive - vor allem solche mit Innenfokussierung - können das kompensieren, oder im schlimmsten Fall sogar umkehren, sodass im unglücklichsten Fall (bei Teleobjektiven) die Brennweite sogar abnimmt.
- Bei vielen Objektiven vor allem Zoom-Objektive kommt jedoch ein extremes sogenanntes Focus-Breathing hinzu. Man könnte es mit dem deutschen Wort Brennweiten-Atmung oder Brennweitenveränderung übersetzen. D.h. im Nahbereich (bei kurzem Abstand zum Motiv) erzielt ein 200 mm Telezoom (u.a. der etwas ältere AF-S NIKKOR 70-200 mm 1:2,8G ED VR von Nikon aus dem Jahr 2013) nur noch weniger brauchbare 135 mm am Teleende. Noch ungünstiger ist der Umstand, dass diese Veränderung bei Zooms je nach eingestellter Brennweite auch noch unterschiedlich ausfallen kann. Man kann bei solch extremem Focal (length) breathing durchaus von Brennweiten-Betrug sprechen.
Zoom-Objektive
- Bei zahlreichen Zoom-Objektiven tritt ein hässlicher Nebeneffekt ein. Die jeweilige Brennweite wird zwar in den EXIF-Daten der Bilder und auf dem Drehkranz des Objektives angegeben, stimmt jedoch nicht immer mit den realen Werten überein.
- Vor allem preiswerte Objektive zeichnen in den EXIF-Daten oft ziemlich ungenaue
Sprünge
der Brennweite auf. Andere geben sowieso eher interpolierte Werte an.
- Daraus folgt, dass man sich generell bei Zoom-Objektiven nicht so sehr auf die exakten Brennweitenwerte zwischen den beiden Enden des Zooms verlassen sollte.
Weitere physikalische Einschränkungen
Je nach Objektiv kommen je nach gewählter / eingestellter Blende noch weitere Einschränkungen hinzu:
- So können sich bei Offenblende oft Abdunklungen in den Ecken und Rändern (Vignettierung) sowie sichtbare Unschärfen in den Randbereichen zeigen. Diese führen oft zu einem dann erforderlichen Beschnitt des Bildes, weil man die Ränder und Ecken nicht verwenden kann.
- Ferner kommen bei einigen Objektiven sichtbare Farbverschiebungen (chromatische Aberration) bei (Zooms bei) verschiedenen Brennweiten und / oder Blenden (auch bei Festbrennweiten) hinzu, welche ebenfalls die Randbereiche als nur bedingt nutzbar erscheinen lassen und zu einem nachträglichen Beschnitt führen.
- D.h. der nutzbare Blickwinkel wird weiter reduziert.
Weitere Modell-/Hersteller-Einschränkungen
- Selbstredend dürfen Sie den Herstellern glauben, dass die Brennweiten-Angaben der Objektive zutreffen. Aber beim Nachprüfen in den Testlaboren stellen sich oft gravierende Abweichungen heraus.
- So bieten 50 mm Standard-Objektive selten exakt 50 mm Brennweite. Die Objektivwerte werden meist gerundet und dann in marktübliche
Klassen
eingeteilt. In unserem Beispiel dürfen Sie alles zwischen 45 und 55 mm realer Brennweite je nach Modell erwarten. Selbst Ausreißer mit 40-60 mm Brennweiten sind möglich.
- Bei Zoom-Objektiven wird noch massiver getrickst, da man die marketing-technischen Norm-Werte (= Kundenerwartung) erzielen möchte. 24-70 mm Brennweite entpuppen sich dann oft als 26-65 mm real. Im Extremfall sind auch ca. 28-60 mm möglich.
- Telezooms liefern ganz selten die angegebenen Maximalwerte. Da sind am maximalen Teleende 190 mm Brennweite bei angegebenen 70-200 mm schon als gut zu bezeichnen. Bei heute relativ preiswerten nicht selten zu findenden ca. 200-600 mm Zooms sind auch ca. 550 mm am oberen Ende noch zu erdulden.
- Während es in der Fotopraxis meines Erachtens im Telebereich auf ein paar mm Brennweite nicht so sehr ankommt, sind ein paar fehlende Millimeter Brennweite im (Ultra-) Weitwinkelbereich sehr schnell sichtbar störend. Vor allem in engen Zimmern oder Gassen zählt
unten
jeder Millimeter Brennweite.
- Warum tricksen die Hersteller dann so? Weil eine präzise Fertigung (vor allem im Ultra-Weitwinkel-Bereich) extrem mehr Aufwand in der Forschung und Entwicklung verursacht und damit signifikant teurer ist. Daraus folgt, dass vor allem preiswerte Objektive unter diesen erheblichen Abweichungen leiden.
- Allerdings existieren auch optische Anforderungen, die sich bei bestimmten Brennweiten nicht einfach oder nicht optimal erfüllen lassen. Dies führt dann im Hochpreissegment zu Objektiven mit merkwürdigen Brennweitenangaben, wie dem NIKKOR Z 58 mm 1:0,95 S Noct. Bei rund 9.000 Euro würde kein Hersteller das Objektiv als 50 mm Standard-Brennweite anpreisen.
Weitere mathematische Details
- Beachten Sie bitte bei allen Angaben zum Bildwinkel, was genau gemeint ist.
- Hier meine ich den horizontalen Bildwinkel einer horizontalen Aufnahmen - der klassische Fall der langen Seite des Bildes.
- Manche Rechenwerkzeuge geben aber auch den vertikalen Blickwinkel oder sogar den diagonalen des Sensors an.
- Während der vertikale Blickwinkel immer kleiner ist als der horizontale (auch bei 4:3-Sensoren bei MFT-Kameras), ist der Diagonale Bildwinkel selbstredend größer als der jeweilige horizontale.
- Mathematisch (für diejenigen Wenigen, welche es genau wissen wollen) - der Bildwinkel wird genau genommen als Formatwinkel bezeichnet, der den doppelten Feldwinkel darstellt: 2w = 2 * arctan (Sensorbreite y' / 2 * 1/ Brennweite f') - in rad. Falls Ihr Taschenrechner (sofern Sie so etwas noch besitzen) mit Grad arbeitet, dann benötigen Sie noch den Zusatz: *180/π am Ende (π = Pi).
- Diese Formel gilt nicht für Sonderobjektive (Fisheye, Makro) oder Aufsätze auf Objektiven.
- Im Grunde gilt diese mathematische Formel auch nur für sich in der Länge nicht verändernde Objektive. Meist werden diese als innenfokussiert bezeichnet. Verändert sich die Länge des Objektives beim Fokussieren oder Zoomen, müsste man genau genommen jedes Mal etwas korrigieren. Für die in der praktischen Fotografie vorkommenden größeren Motivabstände darf dies jedoch vernachlässigt werden. Sie werden im wahrsten Sinne des Wortes
sehen
, wie ungenau die meisten Menschen sowieso derartige Winkel nur messen können.
- Perfektionisten werden hinzufügen, dass die Mathematik eigentlich von einer einzigen idealen (= ganz dünnen) Linse ausgeht, wir in modernen Objektiven jedoch heute oft mehr als 10 Linsenelemente verwenden, um zahlreiche Abbildungsfehler zu korrigieren.
- Techniker in der Objektiventwicklung könnten hier zurecht noch weitere Seiten an Einschränkungen und ernstzunehmenden physikalischen Problemen bei Objektiven auflisten, welche wir hier einmal übergehen wollen. Sonst will bald niemand mehr fotografieren.
Geometrische Darstellung
Da gemäß meiner Erfahrung als langjähriger Dozent, sich viele Menschen Gradzahlen nicht mehr wirklich räumlich vorstellen können, hier die Bildwinkel aufgezeichnet.
Klicken Sie sich in aller Ruhe durch die Liste der Brennweiten (12-800 mm) und Bildwinkel durch - entweder durch Klicks auf die beiden blauen Pfeile (nach links und nach rechts) oben im Bild oder unten auf die blauen Kugeln.
Praktische Umsetzung
- Verwendet man ein 50 mm Objektiv zur Aufnahme und dann ein 100 mm Objektiv, so wird das abgebildete Motiv auf dem 2. Foto doppelt so groß dargestellt. Aber der Bildwinkel nimmt nicht linear auf die Hälfte ab. (Die trigonometrische Formel benutzt den arctan.)
- Ab ca. 50 mm Brennweite kann man dennoch grob mit jeder Verdopplung der Brennweite in Millimetern auch ungefähr eine Halbierung der Gradzahl des Bildwinkels veranschlagen. Das ist zwar mathematisch nicht präzise. Die Differenz liegt jedoch unter dem von den meisten Menschen unterscheidbaren Winkeln und reicht somit für die tägliche Fotopraxis zur groben Abschätzung erst einmal aus.
- Daraus folgt, dass ein 100 mm-Objektiv einen etwa doppelt so großen Bildwinkel besitzt wie ein 200 mm Objektiv. Oder anders herum: Ein Objektiv mit 200 mm Brennweite bietet nur noch etwa den halben Bildwinkel.
- In dem am häufigsten in der Fotografie verwendeten kleinen Brennweitenbereich bis 70 mm sieht es jedoch für Faustformeln sichtbar ungünstig aus.
- Letztendlich bleibt noch immer das Problem, dass viele Menschen sich (Bild-)Winkel einfach nicht räumlich vor sich selbst vorstellen können.
Soweit, so schlecht. Nun wissen Sie zwar, dass 70 mm Brennweite bei Vollformat ca. 29 Grad horizontalen Blickwinkel ergeben und 24 mm Brennweite etwa einen Blickwinkel von 74 Grad. Aber können Sie mir das reale Endergebnis mit Ihren Armen, Händen und Fingern für exakt Ihre Kamera (Sensorgröße) mit Ihrem Objektivmodell zeigen?
Tricks für die Fotopraxis
Schnelle Daumen
- und Faust
-Regeln
- Unabhängig von all den Formeln, die sich sowieso - wie oben ausgeführt - auch noch auf die Sensorgröße beziehen, gibt es jedoch im wahrsten Sinne des Wortes Daumen- und Faustformeln.
- Hinweis: Benutzen Sie für die kommenden Übungen und eigenen Tests immer nur ein Auge. Am besten das, mit dem Sie normalerweise auch durch den Sucher der Kamera blicken.
- Bei meiner locker (leicht im Ellenbogen angewinkelten) vor mir auf Augenhöhe gehaltenen Armlänge aber maximaler Fingerspannweite der extrem gespreizten Hand ergibt die Distanz vom Ende des Daumens bis zur Spitze des kleinen Fingers in etwa 70 mm Brennweite. Für mich ist das z.B. bei Vollformat der ideale schnelle Maßstab, um zu entscheiden, ob ich einen Zoom 24-70 oder 70-200 mm anschrauben muss.
- Bei meiner Armlänge und Fingerdicke der extrem ausgestreckten flach vor mich gehaltenen geschlossenen vier Finger der Hand ergibt die Breite der 4 Finger (Zeigefinger bis kleiner Finger) in etwa 200 mm Brennweite. Für mich ist das z.B. bei Vollformat der ideale schnelle Maßstab, um zu entscheiden, ob ich einen Zoom 70-200 mm oder 200-600 anschrauben muss.
- Nur zwei Finger eng aneinander (Zeigefinger und Mittelfinger) am lang ausgestreckten Arm vor mir nach oben gehalten decken etwa 400 mm Brennweite ab und ein einziger am langen Arm vor mir nach oben zeigender (Zeige-)Finger deckt etwa 800 mm Brennweite ab.
- Bei meiner Brustbreite und Armlänge sowie Handgröße ergeben die an den langen Armen gerade vor mich nach oben gestreckten beiden kleinen Finger in etwa 24 mm Brennweite. Alternativ können Sie auch Ihre beiden an den vor sich ausgestreckten Armen hochgehaltenen Daumen verwenden, wenn Sie diese etwas nach außen neigen. Für mich ist das z.B. bei Vollformat der ideale schnelle Maßstab, um zu entscheiden, ob ich einen Zoom 24-70 mm oder 14-28 mm oder ein vergleichbares Ultraweitwinkel-Objektiv anschrauben muss.
- Selbstredend hängt dies von Ihrer Armlänge und Ihrer Fingerlänge / Fingerbreite sowie Ihrer Gelenkigkeit beim Abspreizen etc. der Finger ab. Ferner spielt es eine Rolle, ob Sie mit der Brust frontal gerade auf das Motiv blicken, oder die Brust / den eigenen Körper etwas verdrehen. Überdies ist es natürlich wichtig, mit welchem Auge Sie zielen und welche ausgestreckte Hand Sie verwenden.
- Aber Sie werden sicherlich brauchbare Werte für sich und Ihre Objektive finden - für jede Sensorgröße.
- Nochmals: Kein Mensch muss sich dabei verkünsteln. Es kommt auf ein paar Grad mehr oder weniger nicht an. Deshalb habe ich oben auch gerundete Werte angegeben. Es geht für die Fotopraxis wirklich nur um grobe Daumenregeln.
Eigene Faust
-Regeln erstellen
- Stellen Sie ein Stativ auf etwa Augenhöhe in einem großen Zimmer auf. Der Raum sollte in der Länge deutlich über 2 Meter bieten, da erwiesener Maßen zahlreiche Objektive an obigem Focus-(length)-Breathing leiden.
- Befestigen Sie Ihre Kamera auf dem Stativ, so dass Sie aus dem Stehen bequem durch den Sucher schauen können.
- Sofern Sie eine Kamera mit 100%-Sucher besitzen (alle hochwertigeren Kameras), können Sie den Sucher verwenden. Ansonsten müssen Sie Live-View auf dem rückwärtigen Display benutzen, damit Sie die 100%-Breite des später aufgenommenen Fotos erhalten.
- Montieren Sie nacheinander alle Objektive an die Kamera.
- Stellen Sie Ihre Objektive auf die Wand / das Fenster etc. scharf und stellen Sie bei Zooms die Brennweite ein.
- Schauen Sie durch den Sucher und merken Sie sich die äußeren Ecken des gerade noch abgebildeten Motives - also die beiden äußersten Punkte im Raum, die Sie durch den Sucher noch erkennen konnten. Perfektionisten stellen irgendwelche Gegenstände wie Bücher dort hin.
- Bewegen Sie nun Ihren Kopf genau über den Sucher der Kamera und versuchen Sie mit einer oder beiden ausgesteckten Händen den Bereich irgendwie abzudecken / von links bis rechts zu begrenzen.
- Vorsicht: Es funktioniert nicht, wenn Sie durch den Sucher der Kamera schauen und somit durch das Objektiv auf Ihre ausgestreckte Hand schauen. - Sie haben schließlich auch in der Praxis keine Kamera in der Hand. Diese holen Sie ja erst später aus dem Rucksack.
- Machen Sie sicherheitshalber bei allen Objektiven (aber besonders bei Zoom-Objektiven) einen Test mit Fokussierung auf unendlich sowie auf sehr kurze Distanz und ermitteln Sie die eventuell vorhandenen Unterschiede.
- Selbstredend können Sie sich aus stabiler Klarsichtfolie auch ein perfektes Muster herstellen, das Sie dann in einem präzise genormten Abstand vor sich halten, um alles sauber auszumessen. Das machen manche Fotografen. Mir ist es jedoch zu umständlich, zuerst solch eine Plastikfolie aus dem Rucksack zu fummeln, dann ziemlich blöde von allen angeschaut zu werden, wenn ich diese Dinge ausmesse, um dann auch noch die entsprechenden Fragen zu beantworten resp. die hirnlosen Kommentare zu ertragen. Da ist die Sache mit den Fingern / Händen viel einfacher, schneller und unauffälliger.
Video
- Sie können sich auch Faustregeln für die Videografie erstellen.
- Aber das hängt wirklich von jedem Kameramodell und dem darauf verwendeten Video-Modus ab: Cine-4K oder normales 4K, Full-Sensor-Read-Out oder Crop, Full-HD und teilweise je nach Kameramodell sogar der Bildfrequenz - oder dem Umstand, ob man die Bildstabilisierung aktiviert hat oder nicht.
- Der Hintergrund liegt darin, dass bei Video fast jedes Kameramodell nicht exakt die maximale Breite des Sensors verwendet, sondern etwas davon beschneidet.
- Aber selbst bei maximaler Sensorverwendung in der Breite wird die Höhe beim heute üblichen Breitbild selbstredend beschränkt.
- Folglich muss man alles selbst ausprobieren. Keinesfalls darf man für Videoaufnahmen pauschal die (errechneten oder händisch ermittelten) Werte der Fotografie übernehmen.
Fazit
Probieren Sie es einmal aus.
Sie lernen dadurch viel über Ihre Objektive.
Das verhilft Ihnen zu einer schnelleren Fotopraxis und führt zu besseren Bildern.
Vor allem können Sie dann jedem verständlich meine im Grunde einfache Frage vom Anfang des Artikels korrekt beantworten.
Bildgestaltung und Bildwirkung
Unbenommen bleibt jedoch, dass die Bildwirkung je nach Wahl der Brennweite sich dramatisch ändern kann.
- So wirkt z.B. ein Segelboot im Sturm bildfüllend mit 800 mm Brennweite auf dem Bodensee aufgenommen u.a. sportlich und dynamisch.
- Dasselbe Segelboot mit Weitwinkel allein und verlassen auf dem sonst leeren aber von weißen Schaumkronen schäumenden See hingegen strahlt Einsamkeit, Schutz- und Hilflosigkeit, das Zerbrechliche, das dem Spiel der Natur ausgeliefert ist, etc. aus.
- Daraus folgt, dass es bei der Objektiv- und Brennweitenwahl natürlich auch darauf ankommt, was Sie mit dem Foto beim Betrachter ausdrücken wollen.
- Aber auch dabei hilft es, wenn Sie sich mit den gebotenen Bildwinkeln jedes Objektives Ihrer Sammlung auskennen und Sie sich deren Wirkung vor der Aufnahme plastisch vorstellen können.
Links
Zur weiteren Lektüre:
- Field of View Calculator (FoV) of a Camera and Lens - Englisches Rechentool.
- Chart of Camera Field of View Angle for focal lengths on popular sensor sizes - Englische Tabellen für fast alle erdenklichen Brennweiten und zahlreiche Sensorgrößen, sogar selbst konfigurierbar.
- Math of Field of View (FOV) for a Camera and Lens - Englischer Artikel zur Mathematik.
- Depth of Field (DoF), Angle of View, and Equivalent Lens Calculator - Englisches Rechentool.
- Bildwinkel berechnen lassen (Formatwinkel, doppelter Feldwinkel) - Es wird nur der (für die Fotopraxis wertlose) diagonale Winkel angegeben.
- Öffnungswinkel berechnen - Hier muss man zuerst den Sensor in einem Pull-down-Menü auswählen und kann auch die Brennweite nur aus einigen vorgegebenen Datenbeispielen auswählen - also nicht frei eintippen. Will man selbst Brennweiten eintippen, muss man zuerst
Userdef. (mm)
auswählen.
- Bildwinkel und Bildausschnitt - Berechnung für freie Formateingaben - Ziemlich komplexes Rechenwerkezug, das u.a. auch den horizontalen Winkel errechnet.
- Bildwinkel- und Panorama-Rechner - Ein etwas älteres Werkzeug, das dafür jedoch vorgibt, auch für Fisheye-Objektive die Ergebnisse berechnen zu können.
- Bitte beachten Sie, dass bei den meisten Rechenwerkzeugen nicht darauf hingewiesen wird, dass die Ergebnisse nur für Normalobjektive gelten - also nicht für Fisheye, Makros oder Objektivaufsätze.
- Angle of view - Wikipedia Englisch - AOV = Kamera-Bildwinkel.
- Field of view - Wikipedia Englischer Artikel.
- How To Calculate Field of View In Photography - Englischer Artikel mit eigenen Tabellen zu verschiedenen Sensorgrößen.
- Bildwinkel - Wikipedia Deutsch.
- Sichtfeld - Wikipedia Deutsch.
- Unterschied von Brennweite und Bildwinkel - Deutscher Artikel.
- Der Bildwinkel - Deutscher Artikel
- Der Bildwinkel - horizontal, vertikal und diagonal - Es werden 3 Listen mit allen Winkeln angegeben.
- Den Unterschied von Brennweite und Bildwinkel verstehen - Deutscher Artikel.
- NIKKOR-Objektivsimulator - Einer der vielen Simulatoren, welche die verschiedenen Brennweiten der Objektive anhand eines Beispielfotos verdeutlichen wollen, in das immer tiefer hineingezoomt wird. Wie üblich eine schöne technische Internet-Spielerei = Marketing-/Werbe-Instrument. Aber man lernt nichts für die Fotopraxis.
- What is lens breathing? (And why should you care?) - Englisches Video.
Wie fast immer gilt auch bei diesen Quellenangaben: Wer des Englischen mächtig ist, sollte dort nachschlagen. Die meisten deutschen Texte sind eher von mittlerer bis mäßiger Qualität.
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Deshalb freue ich mich, wenn Sie mein unabhängiges Engagement für Sie durch einen gelegentlichen Kauf bei Amazon über die hier angegebenen Links unterstützen. Es ist gleichgültig, welches Produkt Sie über diesen Link kaufen. - Es kann auch jede andere Ware außerhalb des Fotobereiches sein. Alle Preise sind und bleiben für Sie gleich niedrig, wie wenn Sie direkt zu Amazon gehen. Aber durch Ihren Klick auf meinen Link erhalte ich evtl. Monate später eine sehr kleine prozentuale Prämie (Cents je Kauf), welche mir hilft, die hohen Kosten bei der Erstellung der Artikel zumindest teilweise zu decken. - Bitte starten Sie Ihre Einkäufe bei mir.
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Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Freude beim Fotografieren und Filmen.