5. Gestaltgesetze / Gestaltungsgesetze für den Bildaufbau
Auch in der Fotografie spielen die Gestaltgesetze für den Bildaufbau eine wichtige Rolle.
Ein Inhaltsverzeichnis mit direkten Sprungmarken und Überblick über alle bei Gestaltgesetze
behandelten Themenbereiche finden Sie als Pop-Up.
Gestaltgesetze
Der Mensch besitzt die Fähigkeit, Strukturen und Ordnungsprinzipien in Sinneseindrücken wahrzunehmen. - Die Gestaltpsychologie hat in vielen Untersuchungen gewisse Gestaltgesetze erarbeitet. Sie beziehen sich auf das Zusammenwirken einzelner Elemente.
Da die Gestaltgesetze unabhängig von dem eigentlich abgebildeten Inhalt gelten, betreffen sie die Art der Wahrnehmung - das Wie
des Sehens - also abstrakte Verhältnisse, Muster, Eigenschaften, Zusammenhänge etc. - Deutlich wird, dass die Wahrnehmung ein Verarbeitungsprozess darstellt, also eine Folge kognitiver Operationen ist.
Im Prinzip laufen die folgenden Gesetze auf etwas Überraschendes hinaus: Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile.
(Wolfgang Metzger)
Je nach Autor und Zeitpunkt der Veröffentlichung werden bis zu über 100 Gestaltgesetze unterschieden, wovon hier die wichtigsten dargestellt werden.
In einem Foto können mehrere dieser Gesetze gleichzeitig sowie mehr oder weniger stark wirken.
Gesetz der Nähe
- Je näher Einzelobjekte beieinander stehen, umso eher können sie auch als zusammenhängendes Gesamtobjekt betrachtet werden, das eine Struktur bildet.
- Elemente mit geringem Abstand werden oft als Gruppe wahrgenommen.
- Stehen mehrfach gruppierte Elemente zusammen, so werden die Teile mit dem kleinsten Abstand zueinander als sinnhaft zusammengehörig wahrgenommen (z.B. auch Buchstaben, Wörter, Sätze, Absätze).
- Es ist deshalb sinnvoll, (aus der Sicht des Fotografen) zusammengehörende Elemente als eine näher zusammenstehende Gruppe zu fotografieren. Dann wirken sie als ein Schwerpunkt im Bild. Getrennt stehende Elemente können um die Aufmerksamkeit des Betrachters streiten.
- Folglich ist es auch sinnvoll, über (große) Zwischenräume und Leere in einem Bild als sinnvolle Elemente zur Trennung nachzudenken.
In der Grafik oben sind einige Elemente gruppiert abgebildet. Die Elemente mit dem kleinsten Abstand voneinander werden oft als zusammengehörend interpretiert.
Gesetz der gemeinsamen Region
- Elemente in abgegrenzten oder umschlossenen Gebieten werden oft als zusammengehörig empfunden.
- Dies kann z.B. ein Bücherregal mit den einzelnen abgegrenzten Brettern, oder ein Archiv mit vielen freistehenden Regalen sein, die heute sichtbaren Blöcke unter der Motorhaube eines Pkw oder die Fachunterteilung einer Büroschublade oder eines Besteckkastens. Aber auch die unter z.B. einem Sonnenschirm stehenden Personen werden als zusammengehörend gesehen.
Gesetz der verbundenen Elemente / Gesetz der Verbundenheit
- Verbundene Elemente werden oft als ein einziges Objekt empfunden.
- Klassischstes Beispiel sind sicherlich die sich die Hand schüttelnden Geschäftspartner.
- Aber - wie in Grafiken - kann auch in einem Foto jeder gemeinsam (gehaltene) Gegenstand oder jede (Verbindungs-) Linie zwei oder mehrere Objekte miteinander verbinden.
- Oft reichen für diesen Effekt jedoch bereits auch andere Elemente wie Linien (Teilweise im Vorder- oder Hintergrund) oder nur Blickrichtungen der Personen aus.
Gesetz der Ähnlichkeit oder Gleichheit (Coherence - Zusammengehörigkeit)
- Objekte, welche dieselbe Größe, Farbe, Tonwert oder die gleiche Form und auch Umgebung besitzen, werden oft als zusammengehörig empfunden.
- Je mehr Ähnlichkeiten / Übereinstimmungen vorliegen, desto zusammengehöriger wirken die Elemente.
- Das Gesetz der Gleichheit funktioniert am besten bei gleicher Farbe.
- Das Gesetz der Ähnlichkeit oder Gleichheit funktioniert auch über große Distanzen (Zwischenräume) hinweg.
In der Grafik oben sind einige Elemente gleich abgebildet. Diese Elemente werden oft als zusammengehörend - als Paar - interpretiert.
Gesetz der Geschlossenheit / Gesetz der geschlossenen Gestalt
- Das menschliche Gehirn versucht oft, Lücken zu schließen, Formen zu vervollständigen und Einzelobjekte als zusammengehörend zu einem geschlossenen Ganzen zu betrachten.
- Vor allem Linien, die eine Fläche zu umschließen scheinen, werden gerne als Einheit angesehen.
- D.h. unser Gehirn ergänzt Dinge, die nicht vorhanden sind.
- Das klassischste Beispiel dürften das folgende sein: Im Bild sehen viele Menschen ein weißes Quadrat in der Mitte, obwohl diese Form nicht vorhanden ist.
In der Grafik oben sind vier zu je einem Viertel angeschnittene Kreissegmente abgebildet. Dennoch sehen die meisten Betrachter ein weißes Quadrat.
Gesetz der Prägnanz / der einfachen und guten Gestaltung
- Prägnanz, prägnante Formen bzw. gute Gestalt bedeutet eine kurze, klare und treffende inhaltliche Darstellung.
- Man versucht, Gestalten wahrzunehmen, die sich von anderen durch bestimmte Merkmale unterscheiden.
- Das menschliche Gehirn versucht, wahrgenommene Objekte durch klare Merkmale in möglichst einfache Strukturen (= Gute Gestalt) zu zerlegen.
- Die Wahrnehmung wird somit oft durch geometrisch vereinfachte Grundformen wie Kreise, Quadrate, Rechtecke, Dreiecke bestimmt.
- Die klassischsten Beispiele dürften die folgenden zwei sein: Im ersten Bild sehen viele Menschen ein weißes Quadrat in der Mitte, im zweiten ein weißes Dreieck (Kanizsa-Dreieck), obwohl diese Formen nicht vorhanden sind.
In der Grafik oben sind vier zu je einem Viertel angeschnittene Kreissegmente und vier rechtwinklige Schenkel abgebildet. Dennoch sehen die meisten Betrachter ein weißes Quadrat.
In der Grafik oben sind drei zu je einem Sechstel angeschnittene Kreissegmente und drei spitze Schenkel abgebildet. Dennoch sehen die meisten Betrachter ein weißes Dreieck, auf einem schwarzen Dreieck.
Prägnanz meint jedoch auch, dass Unterschiede sofort auffallen. In der obigen Grafik erkennen Sie Sterne. Einer fällt jedoch aufgrund seiner anderen Form (einer abweichenden Anzahl an Ecken) auf.
In der Fotografie kann man bewusst gegen dieses Gesetz der Prägnanz verstoßen, um einen sich abhebenden, die Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Blickfangpunkt zu setzen.
Der Verstoß gegen die Prägnanz führt zu einem auffälligen Blickfang. Meist wirkt eine andere Farbe stärker als eine andere Form. Aber beides wird verwendet.
Gesetz der Symmetrie
- Elemente oder Objekte, welche symmetrisch zueinander stehen, werden von Betrachtern eher als zusammengehörig wahrgenommen, als solche, die ohne Strukturen angeordnet sind, oder deren Muster schwer zu erkennen sind.
- Das Gehirn braucht / sucht Ordnung.
- Die Symmetrie um die senkrechte Achse (Vertikale) wirkt stärker als jede andere Spiegelung.
In der Grafik oben sind vier verschiedene Elemente in unterschiedlicher Farbe abgebildet. Die geordneten roten und schwarzen Elemente wirken zusammengehörend.
Gesetz der Kontinuität / Gesetz der guten Fortsetzung
- Optische Reize, die andere Reize fortzusetzen scheinen, werden oft als zusammenhängend angesehen.
- Einzelobjekte die einer Linie / Richtung (das muss keine Gerade sein) folgen, können eine Zusammengehörigkeit vermitteln.
- Räumlich oder zeitlich fortlaufend miteinander verbundene Elemente werden als Einheit betrachtet.
- Das Gehirn setzt eine scheinbare Fortsetzung voraus.
In der Grafik oben sind einige Elemente so abgebildet, dass man von einer Fortsetzung ausgehen kann. D.h. der Betrachter erwartet, dass die Elemente sich in der Richtung und Reihenfolge kontinuierlich wiederholen.
In der Grafik oben ist es - durch die Abdeckung - nicht klar, ob es sich um eine Stretch-Limousine oder um zwei hintereinander stehende kleine Pkw handelt. Das Gehirn des Betrachters versucht, die Linien fortzusetzen.
Gesetz der guten Kurve / Gesetz des gemeinsamen Schicksals
- Einzel-Elemente, welche ein gemeinsames Schicksal haben, oder zusammen eine Kurve bilden (manche sagen auch: sich in eine gemeinsame Richtung bewegen oder sich gleichförmig/gleichmäßig verändern), werden oft als eine Einheit gesehen.
In der Grafik oben sind einige Elemente in einer Kurve abgebildet. Die Elemente scheinen zusammen zu gehören, obwohl sie von unterschiedlicher Form sind.
In der Fotografie findet sich so etwas oft bei:
- Fahrbahnen mehrspuriger Straßen
- Lichter(spuren) bewegter Fahrzeuge bei Langzeitaufnahmen
- Formationsflügen von Kunstflugstaffeln mit ihren Farb-/Rauchfahnen
- Formationsbewegungen von Fischen, Vögeln oder fliehenden Landtieren
- Viele Sportarten, bei denen man die Einzelteilnehmer als Gruppe wahrnimmt (Radfahren, Tanzen, Marathon etc.)
- Generell betrifft es oft bewegte Objekte vor einem statischen Hintergrund / in einem sonst statischen Umfeld.
Gesetz der gemeinsamen Bewegung
- Zwei (oder auch mehrere) sich gleichzeitig in eine Richtung bewegende Elemente werden oft als eine Einheit oder Gestalt wahrgenommen.
Gesetz der Gleichzeitigkeit
- Elemente, die sich gleichzeitig verändern, werden oft als zusammengehörig empfunden.
Gesetz der fortgesetzt durchgehenden Linie
- Linien werden meist so gesehen, als folgten sie dem einfachsten Weg.
- Kreuzen sich zwei Linien, so gehen die meisten Betrachter von zwei gerade durchgehenden Linien aus. Kaum jemand sieht, dass der Verlauf der Linien an dieser Stelle auch einen Knick machen könnte.
In der Grafik oben sehen fast alle Betrachter eine Kreuzung / ein (Andreas-) Kreuz, weil sie die Linien als durchgehend interpretieren und einfach fortsetzen.
In der Grafik oben ist der Knick nur durch die Farbe erkennbar.
Gesetz der Erfahrung
- Da der Erfahrungsschatz subjektiv ist, ist dieses Gesetz insgesamt eher schwach ausgeprägt.
In der Grafik oben sehen geschulte Personen einen Würfel, genauer gesagt die Gitterstruktur eines Würfels. Allerdings muss man diese Erfahrung bereits einmal gemacht haben, um sie hier reproduzieren zu können. De facto sind hier nur einige Kreissegmente abgebildet.
In der Grafik oben sehen geschulte Personen den Buchstaben E. Allerdings muss man diese Erfahrung bereits einmal gemacht haben, um sie hier reproduzieren zu können. De facto sind hier nur einige Geraden abgebildet.
Das Gesetz des Aufgehens ohne Rest
- Die meisten Betrachter versuchen, alle sichtbaren Elemente in das Gesamtbild einzuordnen - also gruppiert wahrzunehmen.
- Bleibt ein unerwarteter Rest übrig, so wird der erste Eindruck verändert. D.h. Reste können ein völlig anderes Bild erzeugen.
In der obigen Grafik erkennen viele Personen zuerst die Muster der einzelnen Paare der senkrechten Streifen. Dann fallen jedoch die beiden übrig gebliebenen Einzelstriche an den Rändern auf und man versucht nun, ein Gesamtbild herzustellen. D.h. das prägnante Muster wird zu einem komplexen und kaum mehr geordneten Bar-Code. Dadurch wird der Wahrnehmungsvorgang erheblich erschwert.
Tuftes Gesetz
- Zwei Linien bilden eine dazwischen befindliche umschlossene dritte Linie.
- 1 + 1 = 3
In der obigen Grafik erkennen viele Personen zuerst die zwei senkrechten schwarzen Linien. Dann sehen jedoch viele Betrachter auch eine dritte, gleichgroße senkrechte weiße Linie dazwischen.
Interferenzeffekte
- Dabei handelt es sich um Effekte, bei denen sich zwei Aussagen in einer Darstellung widersprechen. Dies kann beim Betrachter zu Aufmerksamkeit aber auch Irritation führen.
Seiten
Unabhängig von den Gestaltgesetzen behaupten manche Analytiker:
- Die meisten Menschen werten Dinge auf der linken Seite anders als auf der rechten.
- Viele Menschen schenken ihre spontane Aufmerksamkeit der linken Seite.
- Viele Betrachter scheinen sich mit der linken Seite eines Bildes zu identifizieren.
- Die linke Seite wirke auf viele Menschen dynamischer.
- Zahlreiche Menschen würden alles, das rechts ins Blickfeld gerät, deutlicher wahrnehmen.
- Zahlreichen Betrachtern erscheinen Dinge auf der rechten Seite häufig größer und schwerer.
- Dass Dinge auf der rechten Seite für zahlreiche Menschen unbeweglicher aussehen und ruhend wirken.
Die Aufmerksamkeit anziehende Elemente
Auch folgende Dinge (sogenannte Eye-catcher) werden vom Betrachter oft mit hoher Aufmerksamkeit bedacht:
- Augen
- Gesichter bis hin zur Mimik
- Kinder, Kleines (vor allem kleine Tiere), Niedliches, Hilfloses
- Menschen, insbesondere mit nackter Haut, sexuelle Reize.
Dissonanz
- Die Betrachter haben eine gewisse Erwartungshaltung gegenüber Objekten, die sich aus der Erfahrung speist.
- Zeigt sich nun eine Abweichung, so wird diese Erwartungshaltung gestört.
- Diese Dissonanz erzeugt Aufmerksamkeit.
- Von Gebäuden erwartet man z.B., dass sie aufrecht stehen. Deshalb fällt der schiefe Turm von Pisa auf.
- Vor allem in der Natur haben Betrachter aufgrund der Evolution klare Vorstellungen von den Farben der Pflanzen und Tiere: Deshalb fallen andersartige eingefärbte Objekte sofort auf (blaue Tomate, rote Banane, lila Kuh, ...)
- Aber auch bestimmte Muster und Texturen werden in der Natur erfahrungsgemäß eindeutig zugeordnet. Eine Giraffe mit Zebra-Haut, ein Elefant im Tigerfell, ein Nashorn mit Gepardenmuster oder ein Fisch mit Leopardensprengsel erregen die Aufmerksamkeit.
- Allerdings ist der Mensch lernfähig, weshalb sehr schnell Wiedererkennungs-, Abnutzungs- und Gewöhnungseffekte eintreten können. Bei übertriebenem künstlerischem Einsatz intensiver Reize oder Dissonanzen kann es auch schnell zu Ermüdungserscheinungen kommen, die zur Ablehnung führen können.
Auswirkungen auf die Fotografie
- Die Auswirkungen der Gestaltgesetze auf die Fotografie sind erheblich.
- Zu den Gestaltgesetzen zählt auch der für die Fotografie elementare Unterschied zwischen Figur und Grund / Figure and Ground.
- Fotografen dürfen sich bei der Bildgestaltung nicht nur auf die einzelnen Objekte als unabhängige Einzelkörper konzentrieren, sondern müssen sich auf deren Zusammenspiel einlassen.
- Zusammenhänge verschiedener Objekte müssen erkannt und dann gezielt zur Bildgestaltung eingesetzt werden.
Hier geht es weiter in der Bildgestaltung: Bildaufteilung
Hilfe / Feedback
Liebe Leserinnen und Leser,
damit diese umfangreichen, kostenlosen, wissenschaftlich fundierten Informationen weiter ausgebaut werden können, bin ich für jeden Hinweis von Ihnen dankbar.
Deshalb freue ich mich über jede schriftliche Rückmeldung, Fehlerkorrekturen, Ergänzungen, Neue Informationen etc. Ihrerseits per E-Mail oder Kontakt-Formular.
Um meine Neutralität zumindest auf dem hier beschriebenen Feld der Fotografie und Videografie wahren zu können, nehme ich bewusst von keinem Hersteller, Importeur oder Vertrieb irgendwelche Zuwendungen jeglicher Art für das Verfassen der absolut unabhängigen Artikel an. Auch von Zeitschriften oder Magazinen aus dem Fotobereich erhalte ich keinerlei Zuwendungen.
Deshalb freue ich mich, wenn Sie mein unabhängiges Engagement für Sie durch einen gelegentlichen Kauf bei Amazon über die hier angegebenen Links unterstützen. Es ist gleichgültig, welches Produkt Sie über diesen Link kaufen. - Es kann auch jede andere Ware außerhalb des Fotobereiches sein. Alle Preise sind und bleiben für Sie gleich niedrig, wie wenn Sie direkt zu Amazon gehen. Aber durch Ihren Klick auf meinen Link erhalte ich evtl. Monate später eine sehr kleine prozentuale Prämie (Cents je Kauf), welche mir hilft, die hohen Kosten bei der Erstellung der Artikel zumindest teilweise zu decken. - Bitte starten Sie Ihre Einkäufe bei mir.
Herzlichen Dank an alle für Ihre bisherige Unterstützung.
Ja, ich möchte die Unabhängigkeit dieser Seite unterstützen und kaufe über diesen Link bei Amazon
Pflichtangabe: Als Amazon-Partner verdiene ich an qualifizierten Verkäufen. Alle derartigen sogenannten 'bezahlten Links' zu Amazon sind farblich in Rot gekennzeichnet.
Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Freude beim Fotografieren und Filmen.